Das Tier kehrt zurück …

von Sandra Mühlenberend

Die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst eröffnet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dass die Tiermalerei und -plastik als Bildgattung gänzlich verschwunden ist. Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt zudem, dass das Tierbild als eigenständige Gattung nur einen kurzen Zeitraum bestimmte.

Für die Betrachtung Ingo Garschkes künstlerischer Arbeiten, denen die organische Formwelt der Tiere in großen Ansätzen zugrunde liegt, ist es notwendig, kurz die kunsthistorische Entwicklung des Tierbildes zu reflektieren: Von der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde das Tier als symbolische Zugabe verwendet - bedeutungsvoll aufgeladen oder als Staffage dem Bild der Landschaftsmalerei hinzugefügt. Den künstlerischen Blick auf das eigentliche Objekt Tier hatten nur solche Maler und Plastiker, die dem anatomischen Aufbau, der Bewegung und später auch dem Verhalten der Tiere näher kommen wollten. Das künstlerische und wissenschaftliche Interesse brachte Tierstudien hervor, die über eine oberflächliche Betrachtung weit hinausgingen: Künstler wie Leonardo da Vinci, Carlo Ruini und Georg Stubbs schauten dem Tierkörper unter die Haut, um den genauen Muskel- und Skelettaufbau zu studieren. Es entstanden berühmte Studien zur Pferdeanatomie, die bis ins 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Illustration bestimmen sollten.

Lässt sich bemerken, dass das Pferd eine eindringliche anatomische Untersuchung erfuhr und deren Erkenntnisse in die Kunstwerke der Künstler einfloss, ist die Motivauswahl im Kontext der Kunstgeschichte bezeichnend: das Pferd als schwierigste Disziplin in der bildnerischen Umsetzung rangierte an erster Stelle in Zusammenhang mit Würde, Herrschaft und Statussymbol. Haustierrassen wie Kuh, Schaf und Ziege hatten es dahingegen schwerer, in die wissenschaftliche Betrachtung mit einbezogen zu werden. Selbst Katze und Hund fristeten nur ein erzählerisches Moment im Hintergrund; exotische Arten wurden überwiegend durch den Löwen repräsentiert - meist nach antiken Vorlagen kopiert.

Mit dem Aufkommen tiefergehender Forschung und einer einhergehenden Klassifikation und Systematisierung in allen wissenschaftlichen Bereichen änderte sich auch das Tierbild im 19. Jahrhundert: Entzogen aus der Historienmalerei wurde das Sujet Tier durch die französischen Animaliers vom Ballast ikonografischer Bestimmungen befreit und als eigene Bildgattung formuliert. Die Einflüsse der französischen Bildhauer Menés und Baryes hinterließen auch in Deutschland ihre Spuren, so waren es u.a. der Tiermaler Heinrich Zügel sowie der Tierplastiker August Gaul, die sich dem Tier als autonomes Motiv widmeten. Die Impulse trafen in Folge die Kunstakademien in Deutschland, die ihre Tierklassen um 1900 reformierten und im plastischen Bereich erweiterten.

War das Tier nun losgelöst von ikonografischen Vorlagen, musste es sich im Aufkommen der Moderne behaupten: Ein Kampf, der in allen Strängen der Moderne des 20. Jahrhunderts nicht gelang, abgesehen von der kurzen Wiederaufwertung in der NS-Kunst. Hier erfuhr die Tiermalerei und -plastik eine gewaltsam erzwungene Scheinblüte, die von kurzer Dauer war, aber soviel ideologisch aufgeladene Kraft besaß, dass sich spätere künstlerische Auseinandersetzungen dem Vergleich nicht entziehen konnten. Sie galten als Repräsentationskitsch, mit der sich herrschende Eliten und bürgerliche Mittelschichten umgaben.

In der heutigen Kunstproduktion mit seinen unterschiedlichsten Themen und kunsttheoretischen Ansprüchen ist das Tier- und Naturbild bzw. die Tierplastik auf ein Abstellgleis geschoben. Bezeichnend ist nicht unbedingt das Verschmähen, vielmehr das von der Kunstszene absolute Ignorieren: Das Tierbild muss heute gegen das Image des ewig Gestrigen, Natursentimentalen, Anachronistischen, manchmal gar des Reaktionären ankämpfen.

Es stellt sich die Frage, ob die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Tier wieder Aktualität erreichen kann, und wenn ja, auf welcher kunsttheoretischen Ebene. Verfolgen wir die Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre, erhellt sich im Zuge technischer Errungenschaften das Bild, dass der menschliche Körper und seine Umgebung eine gewisse Synthetisierung erfährt. Nach Phasen der Abstraktion und einhergehender Hygienisierung des Körpers, erobern wir uns neue Denk- und Handlungsräume wie jene im und um das Internet. Diese werden begierig von der neuen Kunstszene inhaliert, provozieren aber ebenso Gegenbewegungen, die den organischen Körper favorisieren.

Von einer anfänglichen Betrachtung der Oberfläche schauen Künstler und Laien mit fast leonardischer Neugier dem Körper wieder unter die Haut - noch weit entfernt, diesen Anspruch auch mit Formen- und Artenvielfalt in Zusammenhang zu bringen.

Der Künstler Ingo Garschke schaut ebenso, doch ist sein Blick nicht geblendet von Neugier auf der Suche nach 'Schockerlebnissen', sondern konzentriert auf gestaltbildende Zusammenhänge, die in ihrem Begreifen seine bildnerischen Umsetzungen bestimmen. Hatten sich im 19. Jahrhundert die künstlerischen und wissenschaftlichen Kategorien über den Körper getrennt, fügt sie Ingo Garschke in seinen Arbeiten wieder zusammen. Ansätze, die nicht nur in seinen Sektionszeichnungen und anatomischen Detailuntersuchungen, sondern auch in seinen Plastiken und selbst in seinen Landschaftszeichnungen zu finden sind.

Denn entgegen jener am Thema der Anatomie orientierten und auf Schockerlebnisse reduzierten Arbeiten - wie die von dem in London lebenden Künstler John Isaac, der seinen Körper anatomisch genau in Nachbildung als Leiche zeigt, oder des Berliner Künstlers Micha Brendel, der Körperteile zu Dekorationselementen funktionalisiert und selbst der Heidelberger Anatom Gunther von Hagen, der seine Plastinate im Totentanz vereint - bewältigt der Ingo Garschke in seinen anatomischen Studien morphologische Zusammenhänge auf hohem künstlerischen Niveau. Die Präparat-Zeichnungen bergen die Ästhetik wissenschaftlicher Darstellungsform und lassen Raum für Interpretation und künstlerische Ausdrucksweise. Es kann behauptet werden, dass beide Kategorien, die bildnerische und die wissenschaftliche, in den Werken der anderen Künstler bewusst getrennt von einander ausgeführt worden sind. Um mehr zu sein als eindimensionale Übersetzungen, entwickeln sich Garschkes Zeichnungen in einer Ableitung der ersten aus der zweiten. Und so ist es nicht verwunderlich, in fast allen Werken des Künstlers gerade diesen Anspruch wiederzufinden. In einem Zusammenspiel von objektiver und subjektiver Weltsicht können sie mehr als effektvolle Präsentation implizieren.

Sind die anatomischen Tierzeichnungen einerseits auf den Wahrheitsgehalt der zur Darstellung erhobenen Naturbeobachtungen und tierspezifischer Belange angelegt, eröffnen sie andererseits in zeichnerischer Freiheit und Abstraktion künstlerische Aussagefähigkeit. Hier muss von einer Neuerung gesprochen werden: Der Künstler bewältigt exemplarisch am Tier eine inhaltliche und künstlerische Auseinandersetzung, die in ihrem Ursprung immer noch tierspezifisch bleibt. Zu erwarten ist, dass ausgehend von den Zeichnungen modifizierte Tierplastiken entstehen werden, die das Tier im Dreidimensionalen als wieder eingeführte 'Gattung' kunstästhetisch repräsentieren.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Herangehensweise des Künstlers nicht wesentlich von der Arbeitsweise eines Anatomen: Ingo Garschke sammelt und seziert Tiere aller Art, löst von ihnen Muskelschicht für Muskelschicht, um sie später in ihrer Skelettaufstellung als Studienmaterial vorzustellen. Alles fließt in den Prozess der Beobachtung und Dokumentierung.

Die erworbenen Kenntnisse werden in vielfältigen Zeichnungen gefestigt, welche jeweils für sich als Kunstwerke stehen. Es sind dabei stets mehrere Komponenten im Spiel, die auch in den Landschaftszeichnungen auftreten: zum einen das Naturobjekt selbst, das sein wissenschaftliches Interesse fesselt und sein Erkenntnisstreben anregt, zum anderen der subjektive Zugang, der nicht nur mit dem Skalpell gesucht, sondern zugleich mit dem Zeichenstift festgehalten und dadurch intensiv eingeprägt wird. Zeitgleich kommt die freie Umsetzung hinzu, indem die einzelnen Körperteile in ihrer Transzendenz symbolischen Charakter erhalten. Elementare Formen wie die Wirbelsäule, der Schädel oder Verbindungsstücke wie Gelenke und Sehnen durchleben dabei rastlose Metamorphosen bildkünstlerischer Gestaltung.

Der Weg über die wissenschaftliche Betrachtung zu einer Korrelation von Kunst und Anatomie entwickelte sich aus einer vollends künstlerischen Intension: Ausgangspunkt für Ingo Garschkes wissenschaftliches Interesse an der organischen Formwelt war sein plastisches Werk, entstanden 1991 bis 1995, das Kraft, Pathos und Ringen mit dem menschlichen Körper suggeriert. Um der Bewegung des Körpers in der Horizontalen und Vertikalen habhaft zu werden, war auch eine Orientierung an Vorbildern nicht ausgeschlossen: Für die freie Interpretation ist die Auseinandersetzung mit den Werken Rodins, weitergehend mit futuristischen Ansätzen bis hin zu in sich geschlossenen Plastiken eines Henry Moore erkennbar.

Der Einsiedler "Hieronymus", immer wieder von Garschke plastisch formuliert, band erste gestaltbildende Ansätze mit der Frage nach anatomischen Antworten. Auf der Suche nach Lösungen, wendete sich der Künstler 1995 zunächst ab von plastischer Umsetzung, um den naturalistischen Aufbau organischer Körper und dessen Funktion genau zu studieren, aber auch der weiteren Übernahme kunsthistorischer Vorbilder zu entgehen. Fast dem Motto von Carus gleich: Alle Gestalten sind ähnlich und keines gleicht dem Anderen, und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz.

Als geistiges Gerüst hat sich der Künstler die ältere Naturgeschichte angefangen bei Platon bis hin zur Naturphilosophie eines Schelling erobert, die hinausführt von einer inneren Verbindung zu einem einzigen, unendlichen Ganzen. Und genau hier formulieren sich die Motivation und die Findung neuer Ausdrucksformen, indem Ingo Garschke Übersetzungen morphologischer Untersuchungen in Analogie zu künstlerischen Landschaftsstudien bringt. Die Anatomie ist sein Schlüssel zum Verständnis der vielfältigen Naturformen - doch ist dieser nicht maßgeblich, eher Ausgangspunkt im künstlerischen Formfindungsprozess. Die Zeichnungen begnügen sich nicht, ein Stück der Natur wiederzugeben, vielmehr agieren sie als Instrument zur Aneignung der Welt.

Dr. Sandra Mühlenberend ist wissenschaftliche Mitarbeiterin Sammlung Deutsches Hygienemuseum Dresden